Es ist Nacht


Verschwommen, Beleuchtung, Regen, Fenster, Jalousien

Es ist Nacht. Ich sitze auf der Fensterbank, Körperschwerpunkt in meinem warmen Zimmer, die Füße draußen auf dem nassen Ziegeln des Daches. Aus dem vierten Stock schaue ich auf die Straße unter mir. Es regnet. Ein Pärchen biegt in die Straße ein und flüchtet sich ins Trockene des Hauses auf der anderen Straßenseite. Und ich, ich denke nach. Über meine Zeit in Indien. Darüber, dass ich schon mehrfach versucht habe, einen abschließenden Text für den Blog zu schreiben, und darüber, dass es mir noch nie gelungen ist. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte, welche Gefühle und Erlebnisse der letzten eineinhalb Jahre ich erwähnen will, wenn ich einen letzten Post für unseren Blog verfasse. Ich wusste nur, dass ich einen letzten Eintrag schreiben will.
Ich schwinge die Beine zurück ins Zimmer, stehe auf und schnappe mir meinen Laptop. Ich halte viel von meiner Fähigkeit, Gefühle in Wort und Schrift auszudrücken, aber in diesem Fall habe ich es nicht geschafft und werde es auch nicht schaffen. Und deswegen scheiße ich auf einen langen und literarischen Text und schreibe eine Liste. Jeder Punkt darauf ist ein Gedanke, der mindestens einen eigenen Text wert wäre. Und auch wenn die Liste lang wird, ist sie nur ein kleiner Ausschnitt.

Ich denke zurück und denke an:
  • Eine wunderschöne Autofahrt vom Flughafen nach Hause.
  • Einen Umzug, eine inzwischen nicht mehr ganz so neue WG, eine neue Heimat.
  • An das Gefühl, dass ich weder als Fern- noch als Heimweh betiteln kann.
  • Ich will gerne zurück, nur für eine kurze Zeit. Hassan riechen, schmecken, hören und sehen. Ich will noch einmal in dem unbequemen Bett schlafen und mir das Heim anschauen, dass acht Monate mein Zuhause war. Ich möchte Menschen wiedersehen. Den Staff, die Open-Shelter- und die Bridgeschool-Children. Ich möchte Masala Dosa, Gobi Manchuri und sogar Ragiball essen (auch wenn letzteres wirklich widerlich ist).
  • Und an die guten Freundschaften, die ich geschlossen habe. Obwohl wir in Deutschland verteilt sind, sehen wir uns regelmäßig. Es gibt eine Verbindung, auch und besonders mit Benedict, die einzigartig ist und für die ich unendlich dankbar bin.
  • Das seltsame Erlebnis, als ich vor wenigen Wochen das erste Mal in der Pfalz zu Besuch war und einige Leute getroffen habe, die mir so vertraut vorkamen, obwohl ich sie vorher nie gesehen hatte. Ich hatte nur von ihnen gehört. Und sie von mir. Eine ganze Menge.
  • Ich denke an die Vorträge an Schulen, die ich gehalten habe und an das unendlich tolle Gefühl, als ich einen der Schüler beim Vorbereitungsseminar für den aktuellen Jahrgang wiedergesehen habe. Er ist jetzt in Indien, wie fünfzehn andere Menschen auch. Und ich fühle mich wie der Opa, der sie um ihre Jugend beneidet.
  • Die mehr schlecht als recht geglückten Versuche, ehrenamtlich in Rückkehrer*inneninitiativen aktiv zu werden. (Falls jemand Interesse hat, ich habe Dutzende Ausgaben des Masala-Magazins rumfliegen.)
  • Die berufliche Perspektive, die sich durch Weltwärts aufgetan hat. Ich studiere Lehramt, aber bekomme einfach nicht aus dem Kopf, vielleicht doch in die Entwicklungszusammenarbeit einzusteigen und weltwärts-Referent oder Ähnliches bei einer Entsendeorganisation zu werden. Auf jeden Fall will ich nach dem Studium einige Jahre an einer deutschen Schule im globalen Süden arbeiten.
  • Ich denke an die fachliche Expertise, die ich gesammelt habe.
  • Und an das School-Box-Projekt. Die Vitrine mit dem Paket der Prachodana-Kinder steht immer noch im Eingangsbereich meiner alten Schule.
  • Ich denke daran, wie sehr ich mich verändert habe und an die positiven und auch negativen Eigenschaften, die ich mir angeeignet habe.
  • Ich denke an die ersten Wochen in Deutschland, die so verworren sind, dass ich mich ernsthaft kaum an meinen Umzug erinnern kann.
  • Die erste Nacht zurück in Deutschland, als ich am Fenster stand und es so dunkel und friedlich und still war.
  •  Ich denke an vorletzte Woche, als wir uns mit den Rückgekehrten unseres Jahrgangs in einer Jugendherberge getroffen haben.
  •  Ich denke an Prachodana. Welchen Eindruck habe ich hinterlassen? Wurde ich schon vergessen? Und werde ich wirklich zu der Hochzeit eingeladen, zu der ich fest versprochen habe zu kommen?
  • Ich frage mich, was anders gewesen wäre, wenn ich vor über zwei Jahren nicht in diesen Flieger gestiegen wäre.
  • Und ich frage mich, wie lang und unstrukturiert das hier werden darf, bevor der letzte Leser aufgegeben hat.
  • Ich denke an ganz bestimmte Momente. Ein Abend auf einem Felsen am Meer, über den wir nie geschrieben haben, obwohl er für uns beide ein wichtiges und schönes Erlebnis war.
  • Ich frage mich, ob ich je wieder auf diesem Felsen sitzen, im Toid in Bengaluru oder an der Kreuzung der Belur-Road essen werde.
  •  Ich frage mich eine ganze Menge.

Ich klappe den Laptop zu, bin allein mit dem Regen und meinen Gedanken und gehe schlafen. Morgen bin ich wieder Student. Morgen lebe ich wieder im hier und jetzt. 
Nur nachts, da bin ich manchmal ganz wo anders.

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